Kommissionspräsidentin am Parlament vorbei

Die Bestellung Ursula von der Leyens (UvdL) zur Kommissionspräsidentin ist aus meiner Sicht nicht nur eine Verletzung des Spitzenkandidatenprinzips, sondern sie belegt auch erneut die Vorrangstellung des Europäischen Rats (ER) gegenüber dem Parlament. Das heißt, dass nach wie vor in erster Linie die Mitgliedstaaten (MS) bestimmen, welches Stück in der EU aufgeführt wird. Die nationalen Interessen stehen im Vordergrund und nicht die europäischen.

Abgesehen davon, dass auch die populistischen und europaskeptischen Kräfte bei dieser Europawahl gestärkt wurden, hat sich das Europäische Parlament (EP) im Vergleich zum ER in den vergangenen Jahren viel stärker zu einer EU-integrationsfreundlichen Kraft entwickelt, die zunehmend in der Lage war, die nationale Sichtweise zugunsten des gemeinsamen europäischen Interesses zu überwinden.

Ich kann Konrad nur zustimmen, dass die Missachtung des Spitzenkandidatenprinzips ein Schlag gegen die Bemühungen ist, die EU bürgernäher und demokratischer zu machen. Dass der ER letztlich so handeln musste, weil das EP sich nicht schnell genug geeinigt hatte, scheint mir aber ein vorgeschobenes Argument zu sein. Einige Staats- und Regierungschefs (z.B. Macron) hatten von vorneherein erklärt, dass sie das Spitzenkandidatenprinzip nicht akzeptierten.

Die deutsche Seite kann selbstverständlich trefflich argumentieren, dass man ohne die Zustimmung der anderen Länder kaum Durchschlagskraft habe, um eine andere Entscheidung herbeizuführen. Nun, es geht nicht um Durchschlagskraft, sondern um Aushandeln. Deutschland hätte aus meiner Sicht durchaus eine realistische Möglichkeit gehabt, Zustimmung für einen strukturellen Vorschlag zu bekommen, wenn es zuvor auf den einen oder anderen inhaltlichen Wunsch der Partner eingegangen wäre.

Als Beispiele seien genannt: der Vorschlag Macrons für ein gewichtig ausgestattetes Eurozonenbudget mit einem verantwortlichen europäischen Finanzminister oder sein Vorschlag, europäische Wahllisten einzuführen, aber auch die Lockerung des für die Südstaaten so fatalen Austeritätsprinzips. Es ist nicht ausgemacht, dass die europäischen Partner nicht zu einem strukturellen Zugeständnis bereit gewesen wären, wenn entsprechende inhaltliche Flexibilität Deutschlands sichtbar geworden wäre. Aber vielleicht war auch Frau Merkel gar nicht so sehr daran interessiert, die parlamentarische Lösung durchzusetzen.

Es ist schon bedauerlich genug, dass jeder MS einen Kommissar-Posten besetzt, was bei der Zahl von 27/28 Kommissar*innen zu einem schwerfälligen Gremium führt. Auf diese Weise wird das Denken bestärkt, dass jeder MS „seinen“ Kommissar in Brüssel hat, der die Interessen „seines“ Landes vertritt. Da ist es schwer, von der Haltung wegzukommen, dass jeder Nationalstaat seine Interessen gegen die der anderen vertreten muss, anstatt intensiv nach den Entwicklungschancen einer gemeinsamen EU-Politik zu suchen: die EU als Nullsummen-Spiel statt einer Gewinnstrategie für die Gemeinschaft! Zaghafte Reformvorschläge (Juncker), über die Reduzierung der Zahl der Kommissare das Verständnis weiter zu entwickeln, dass jeder einzelne Kommissar die gemeinsame grenzüberschreitende Weiterentwicklung im Auge haben muss, sind bisher bei den MS ohne positives Echo geblieben.

Nun auch noch die Kommissionspräsidentin von den MS aussuchen zu lassen, ist nicht nur kein Fortschritt, sondern darüber hinaus ein gravierender Rückschritt! Zu UvdL selbst: als Frau freue ich mich selbstverständlich, dass es heute möglich ist, eine Frau zur Kommissionspräsidentin zu berufen. Und ohne Zweifel ist es von Vorteil, dass sie wichtige europäische Sprachen spricht. Aber reicht das schon aus?

Was die Erfahrungen aus ihren Ämtern anbelangt, so will ich vorweg sagen, dass ich die Verteidigungspolitik tatsächlich für eines der schwierigsten Aufgabenfelder halte. Weniger wegen der Rückkopplung mit den Bürgerinnen und Bürgern, sondern eher wegen der verfestigten Strukturen und Hierarchien im Verteidigungsministerium (BMV) und der zwielichtigen Rolle der Rüstungslobby. Dass UvdL ihre Aufgabe glanzvoll gemeistert habe, lässt sich mit Fug und Recht nun aber nicht behaupten. Die Leitung der Europäischen Kommission ist aber im Vergleich weitaus herausfordernder.

Dass Frau von der Leyen eine überzeugte Europäerin sei, hört sich gut an, war aber bisher ein Lippenbekenntnis. Denn weder ist ihre Partei, resp. die Regierung, der sie angehörte, mit überzeugenden pro-europäischen Initiativen angetreten, noch hat UvdL selbst mit innovativen Europa-Ideen von sich reden gemacht. Es ist zu befürchten, dass die Staats- und Regierungschefs das auch nicht vermissen, ja nicht einmal wünschen. Die kurzsichtige Herangehensweise wird fortgesetzt: die EU ist gut, solange sie meinen kurzfristigen Interessen dient („Fahren auf Sicht!“) und mich nicht stört!

Die teils blumigen Titel, die UvdL den Verantwortungsbereichen der Kommissar*innen gegeben hat, scheinen mir manchmal eher geeignet, die großen Herausforderungen nicht benennen zu müssen. So taucht z.B. der Begriff Migration in keinem Verantwortungsbereich auf. Da bleibt nur zu hoffen, dass die Bürgergesellschaft nicht müde wird, das Anpacken der großen Herausforderungen einzufordern. Pulse of Europe kann hier eine wichtige Rolle spielen.

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