Ursula von der Leyen ist die Überraschungs-Kommissionspräsidentin 2019. Am Parlament vorbei, ja gegen den dezidierten Beschluss des Europäischen Parlament (EP), wurde sie von den Staats- und Regierungschefs ins Amt gehoben. Schließlich hat eine knappe Mehrheit des Parlaments ihre Zustimmung zu dieser Personalentscheidung gegeben.
Was ist seither geschehen? Die Kommissionspräsidentin hat nach den Vorschlägen der Mitgliedstaaten ihre Kommissionskollegen ausgewählt – drei davon wurden vom Parlament zurückgewiesen – und hat ihnen entsprechende Portfolios zugeteilt. Nach Vorlage neuer Vorschläge wurde die Kommission schließlich mit breiterer Zustimmung vom EP akzeptiert, auch von denjenigen, die zuvor die Wahl von der Leyens abgelehnt hatten. Denn – so beispielsweise die Sozialdemokraten – es seien tatsächlich einige kompetente Personen in das Ratsgremium aufgenommen worden, von denen man positive Veränderungen erwarten dürfe.
Wie sieht es mit der inhaltlichen Positionierung aus?
Vier große Themen sind definiert und von der Kommissionspräsidentin als vorrangige Handlungsfelder benannt worden:
- Die außen- und sicherheitspolitische Stärkung der EU.
- Die Stärkung der sozialen Dimension.
- Eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik der EU.
- Europäische Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels.
Zu den ersten drei Schwerpunkten haben wir noch wenig konkrete Strukturvorschläge vernommen.
- Die derzeitige Eskalation der Spannungen im nahen und mittleren Osten, die Konfrontation zwischen den USA und dem Iran, der ungelöste Handelsstreit zwischen China und den USA, sowie der Ukraine-Konflikt, um nur einige wenige außenpolitische Krisen zu nennen, schreien geradezu nach starken gemeinsamen europäischen Initiativen. Josep Borel, der Hohe Außenbeauftragte der EU bemüht sich zwar nach Kräften darum, dass die EU diplomatische Kanäle zur Eindämmung der Konflikte nutzt, aber nach wie vor versuchen etliche Mitgliedstaaten, eine eigene Außen- und Sicherheitspolitik zu betreiben.
- Zur sozialen Dimension der EU war bisher zu vernehmen, dass die Kommissionspräsidentin sich für einen europäischen Mindestlohn und mehr Transparenz im Hinblick auf Einkommensdifferenzen zwischen Männern und Frauen, sowie für eine europäische Arbeitslosenversicherung einsetzen will. Diese umzusetzen, wäre ein beachtlicher Schritt, der nicht nur die Folgen von Arbeitslosigkeit abmildern kann, sondern sie würde auch als automatischer Stabilisator für die Wirtschaft fungieren.
- Ursula von der Leyen hat angekündigt, dass sie ein neues Konzept für Asyl und Migration vorlegen wolle. Ich bin gespannt, auf welche Weise sie erreichen möchte, dass die trostlosen Zustände in den Flüchtlingslagern in Griechenland und das Sterben auf dem Mittelmeer beendet werden können.
- Die konkretesten Vorstellungen sind im Hinblick auf den Klimaschutz bekannt geworden. Hier hat der Vizekommissionspräsident Frans Timmermans einen „New Green Deal“ erarbeitet, der nicht nur Emissionen senken und Arbeitsplätze schaffen, sondern auch die Lebensqualität verbessern soll. Europa soll bis im Jahr 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent werden. Auf dem Weg dahin soll bis 2030 eine Treibhausgasreduktion von 50 bis 55% unter dem Wert von 1990 erreicht werden. Bis März sollen diese Ziele in einem Klimagesetz verankert werden.
Als zentrales Element ist die Ausweitung des Handels mit Emissionszertifikaten vorgesehen. In Zukunft sollen See- und Luftverkehr mit einbezogen werden. Die jüngsten Zahlen aus Deutschland belegen, dass dieses Instrument tatsächlich beträchtliche positive Wirkung entfaltet.
Die Kommission versteht ihren Green Deal als gigantisches Innovations- und Wirtschaftsprogramm, das auch viele Arbeitsplätze schaffen soll. Ursula von der Leyen hat es das europäische „Mann-auf-dem-Mond-Moment“ genannt. Die nicht immer sehr konkreten Vorschläge werden alle betreffen: Energieerzeugung, Industrie, Landwirtschaft, Bauwesen, Konzerne wie Konsumenten.
Dies bedeutet einerseits, dass gewaltige Summen bewegt werden müssten, wenn wirklich eine „Revolution in der Art des Lebens und Wirtschaftens“ auf dem Kontinent eingeleitet werden sollte. Beispielsweise müssten umweltschädliche Subventionen in Höhe von ca. 1 Billion Euro abgebaut werden. Die Europäische Investitionsbank (EIB) soll in den nächsten zehn Jahren genau diese Summe für umweltfreundliche Projekte bereit stellen. Ihr Chef, Werner Hoyer, erklärte, dass bereits 2025 jedes zweite Projekt „grün“ sein sollte. Doch das wird nicht ausreichen. Die EU selbst wird mehr investieren und die Finanz- und Förderpolitik der EU wird sich grundlegend ändern müssen! Das wird in starkem Maße auch die Landwirtschaft treffen, um nur ein Beispiel zu nennen.
Und damit ist klar, woher der Widerstand kommen wird. Die einzelnen von Veränderung betroffenen Branchen werden aufschreien. Sie werden viel in Lobby-Arbeit investieren, um die EU und die Mitgliedstaaten (MS) dazu zu bringen, die vorgeschlagenen Maßnahmen zu Fall zu bringen oder zumindest zu verwässern.
Die Politiker werden nicht nur von Lobbyisten bedrängt werden, sondern auch von der Angst um Wählerstimmen umgetrieben sein. Die Furcht vor kurzfristigem Verlust von Arbeitsplätzen kann größer sein als der Mut, in neue Möglichkeiten zu investieren. Außerdem gibt es nichts Unpopuläreres als den Bürgern und Bürgerinnen etwas zuzumuten. Dies lässt sich trefflich an dem kleinmütigen Klimapaket der Bundesregierung festmachen. Dabei böte die Tatsache, dass die Klimadebatte augenblicklich in aller Munde ist, die Chance, mutige Schritte zu gehen.
Ich gehe zunächst davon aus, dass die Kommission ihrer Arbeit nicht nur einen grünen Anstrich geben will, sondern ernsthaft positive Entwicklungen anstoßen will. Dazu braucht sie aber unbedingt die Zustimmung der MS und die jeweilige ernsthafte Umsetzung vor Ort. Auch in den andern Themenfeldern ist es keineswegs einfach, eine gemeinsame europäische Politik zu verankern, denken wir nur beispielsweise an die Asyl- und Migrationspolitik, bei der sich eine tiefe Spaltung in und zwischen unseren Gesellschaften zeigt.
Hier kommen wir Bürger und Bürgerinnen ins Spiel. Wir müssen unseren Regierungen Dampf machen und die Bereitschaft signalisieren, mit Zumutungen verbundene Veränderungen mitzutragen. Wir müssen verlangen, dass die kurzsichtige, schädliche Wahrung vermeintlich nationaler Interessen aufgegeben wird zugunsten einer gesamteuropäischen nachhaltigen Sicht. Denn alle angesprochenen Themenfelder – Außen- und Sicherheitspolitik, Soziale Dimension, Asyl- und Migrationspolitik wie Klimaschutz können nicht mehr national, sondern nur noch europäisch vorangebracht werden.
Und hier sind wir von Pulse of Europe gefragt. Wir haben die Aufgabe, die Stimme der europäischen Vernunft zu erheben. Wir müssen den Bürgern und Bürgerinnen vermitteln, dass die Zukunft nur in der Zusammenarbeit von lokaler, regionaler, nationaler u n d europäischer Ebene gesichert werden kann. Wir können die Zuversicht verbreiten, dass Europa unsere Zukunft ist.