Europäische Solidarität ?

Halleluja, die Europäischen Mitgliedstaaten (MS) haben sich auf ein Hilfspaket für die durch die Corona-Krise in Not geratenen Länder der EU geeinigt! Endlich! Nach zähen Verhandlungen, in denen vor allem die nordischen Staaten Widerstand dagegen leisteten, für Italien und Spanien Hilfen zur Verfügung zu stellen.

Ist damit alles gut? Funktioniert die vielbeschworene europäische Solidarität nach Zögern und Ruckeln doch noch? Wächst Europa doch immer enger zusammen, wie die Europäischen Verträge es vorsehen? Und nehmen die Europäer die Werte ernst, die sie als Grundlage ihrer Zusammenarbeit festgelegt hatten?

Ich sehe das nicht so optimistisch. Ganz im Gegenteil: ich bin wütend! Um Missverständnissen sofort vorzubeugen: Meine Kritik richtet sich nicht an die Europäische Union und auch nicht in erster Linie an zwei ihrer Institutionen. Das Europäische Parlament (EP) ist in seiner Mehrheit klar für einen stärkeren Gemeinschaftkurs. Und auch die Kommission mit Frau von der Leyen an der Spitze bemüht sich sehr um gemeinsames Handeln und gemeinsame Übernahme von Verantwortung.

Es sind wieder einmal die MS, die sich mit dem europäischen Geist schwer tun, bzw. ihn sogar vermissen lassen. Zu Beginn der Corona-Krise gab es nur nationale Reflexe: Abschottung der Länder durch unabgesprochenes Schließen der Grenzen, Reservierung der medizinischen Hilfsmittel wie Atemschutzmasken und Schutzkleidung für das eigene Land, Entwicklung von nationalen Schutzstrategien ohne europäischen Dialog.

Nun, hier ist man dank EP und Kommission etwas weiter gekommen, indem mehr Abstimmung und auch Unterstützung der am stärksten betroffenen Länder erfolgt. So sind beispielsweise von deutschen Kliniken Patienten aus Frankreich und Italien aufgenommen worden.

Und nun das Hilfspaket! 500 Milliarden! Unterstützung für die Gewährung von Kurzarbeitergeld; Kredite der Europäischen Investitionsbank für in Not geratene Unternehmen; Mittel aus dem ESM für Kredite, die die Gesundheitssysteme unterstützen sollen, angemessen auf die Corona-Krise reagieren zu können. Diese Maßnahmen können schnell umgesetzt werden. Also alles wunderbar?

Während bei uns und in allen Staaten weltweit darüber gesprochen wird, wie die Wirtschaft nach dem brutalen Ausbremsen wieder auf die Beine kommen kann und in Deutschland in kürzester Zeit Milliarden schwere Programme beschlossen wurden, damit die Wirtschaft nicht völlig abstürzt, sondern sich nach Aufhebung der Corona bedingten Maßnahmen mit Hilfe eines Konjunkturprogramms rasch wieder erholt, sehen sich Italien, Spanien und Frankreich riesigen Problemen gegenüber.

Zwar sind die Regeln des Stabilitätspakts augenblicklich außer Kraft gesetzt. Aber die betreffenden MS verschulden sich durch Annahme der ESM-Gelder weiter. Wenn sie dann zum Ankurbeln der Wirttschaft Maßnahmen finanzieren müssen, werden sie entsprechende Kredite nur zu höheren Zinssätzen bekommen. Der Teufelskreis der steigender Verschuldung setzt sich also fort.

Hier wären gemeinsame europäische Anleihen eine große Hilfe und eine echte solidarische Aktion. Klar: um die akuten Probleme zu lösen, bräuchte die Installation einer Gemeinschaftsanleihe zu lange Zeit. Insofern sind die jetzt verabschiedeten Maßnahmen richtig. Aber um den Aufschwung danach zu finanzieren, ist dieses Mittel unerlässlich, sollen die „Südländer“ nicht weiter in die Schuldenspirale zu geführt und obendrein noch gedemütigt werden.

Das Gegenargument gegen diese sogenannten „Corona-Bonds“ lautet: dann müssen „wir“ (Wir – die fleißigen Deutschen und Nordeuropäer, die wir immer sparsam und fleißig waren und nicht dem „dolce far niente“ gehuldigt haben) für die Schulden der „Südländer“ aufkommen. Abgesehen davon, dass diese Bewertung von Vorurteilen strotzt, die jeder halbwegs informierte Mensch widerlegen kann, ist diese Annahme falsch.

Jedes Land, das sich an der Gemeinschaftsanleihe beteiligt, haftet anteilmäßig für die Kredite, die nur zu einem genau beschriebenen Zweck aufgenommen werden dürfen. Aber der große Vorteil ist, dass durch die Beteiligung wirtschaftlich starker Länder wie Deutschland, die Niederlande und Österreich der Zinssatz sehr viel niedriger wäre, als wenn Italien allein die Kredite am Kapitalmarkt aufnehmen würde.

Für Deutschland wäre es allerdings ein wenig teurer. Das wäre der Preis, den wir für die Solidarität zu zahlen hätten. Mit dem gr0ßen Vorteil, dass unsere Partnerländer zum Nutzen der Exportnation Deutschland auch wieder schneller auf die Beine kämen. Solidarität zahlt sich aus!

Über der Corona-Krise ist ein weiterer Wert, dem sich die EU verschrieben hat, unter die Räder gekommen. Das Grundrecht auf Wahrung der menschlichen Würde und das Recht, in der EU einen Asylantrag stellen zu können und ein faires Verfahren zu bekommen.

Die Fakten sind bekannt. Auf den griechischen Inseln leben zigtausende Geflüchtete unter menschenunwürdigen Bedingungen zusammengepfercht in Lagern ohne ausreichende ärztliche und humanitäre Versorgung. Wegen der dort herrschenden Bedingungen könnte sich der Corona-Virus rasend schnell verbreiten. Hier ist es auch unter rationalen Gesichtspunkten unverständlich, dass wir sehenden Auges in eine medizinische Katastrophe schlittern.

Dabei haben zahlreiche Städte und Gemeinden in Deutschland angeboten, Geflüchtete aus den Lagern aufzunehmen. Auf dem Hintergrund der Erfahrungen von 2015 und aus Furcht vor einem Anwachsen der rechten Kräfte, weigert sich die Bundesregierung aber, tätig zu werden. Nein, falsch! Deutschland ist bereit, zusammen mit anderen MS 1600 unbegleitete Minderjährige aufzunehmen. Dieses Versprechen wurde vor Wochen abgegeben und wochenlang passierte – nichts.

Jetzt endlich soll die Übernahme von 50 (!) Kindern vorbereitet werden. Und wir sollen jubeln? Ich empfinde dies als Hohn! Augenblicklich wird die deutsche Bevölkerung gelobt wegen der Achtsamkeit und Hilfsbereitschaft, die sich in dieser schwierigen Zeit entwickelt habe. Ist nun etwa zu befürchten, dass davon nichts mehr übrig ist für Nichteuropäer, die sich hilfesuchend zu uns geflüchtet haben? Ich schäme mich.

Ich bin überzeugt, dass wir nicht dabei stehen bleiben dürfen, die EU als wunderbare Frieden sichernde Institution zu feiern, sondern dass wir unseren Regierungen klar und deutlich sagen müssen, dass wir die Umsetzung unserer viel gepriesenen europäischen Werte verlangen. Amsonsten bleiben wir in Heuchelei stecken, wenn wir uns andererseits kritisch über die Missachtung von europäischen Werten in Polen und Ungarn äußern.

Ich bin deshalb froh, dass PoE dazu aufgerufen hat, die Resolution zur Solidarität mit Italien zu unterstützen. Wir müssen noch viel lauter werden. Als einzelne und als Organisation.

Welche Chancen hat Ursula von der Leyens „New Green Deal“?

Ursula von der Leyen ist die Überraschungs-Kommissionspräsidentin 2019. Am Parlament vorbei, ja gegen den dezidierten Beschluss des Europäischen Parlament (EP), wurde sie von den Staats- und Regierungschefs ins Amt gehoben. Schließlich hat eine knappe Mehrheit des Parlaments ihre Zustimmung zu dieser Personalentscheidung gegeben.

Was ist seither geschehen? Die Kommissionspräsidentin hat nach den Vorschlägen der Mitgliedstaaten ihre Kommissionskollegen ausgewählt – drei davon wurden vom Parlament zurückgewiesen – und hat ihnen entsprechende Portfolios zugeteilt. Nach Vorlage neuer Vorschläge wurde die Kommission schließlich mit breiterer Zustimmung vom EP akzeptiert, auch von denjenigen, die zuvor die Wahl von der Leyens abgelehnt hatten. Denn – so beispielsweise die Sozialdemokraten – es seien tatsächlich einige kompetente Personen in das Ratsgremium aufgenommen worden, von denen man positive Veränderungen erwarten dürfe.

Wie sieht es mit der inhaltlichen Positionierung aus?
Vier große Themen sind definiert und von der Kommissionspräsidentin als vorrangige Handlungsfelder benannt worden:

  • Die außen- und sicherheitspolitische Stärkung der EU.
  • Die Stärkung der sozialen Dimension.
  • Eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik der EU.
  • Europäische Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels.

Zu den ersten drei Schwerpunkten haben wir noch wenig konkrete Strukturvorschläge vernommen.

  • Die derzeitige Eskalation der Spannungen im nahen und mittleren Osten, die Konfrontation zwischen den USA und dem Iran, der ungelöste Handelsstreit zwischen China und den USA, sowie der Ukraine-Konflikt, um nur einige wenige außenpolitische Krisen zu nennen, schreien geradezu nach starken gemeinsamen europäischen Initiativen. Josep Borel, der Hohe Außenbeauftragte der EU bemüht sich zwar nach Kräften darum, dass die EU diplomatische Kanäle zur Eindämmung der Konflikte nutzt, aber nach wie vor versuchen etliche Mitgliedstaaten, eine eigene Außen- und Sicherheitspolitik zu betreiben.
  • Zur sozialen Dimension der EU war bisher zu vernehmen, dass die Kommissionspräsidentin sich für einen europäischen Mindestlohn und mehr Transparenz im Hinblick auf Einkommensdifferenzen zwischen Männern und Frauen, sowie für eine europäische Arbeitslosenversicherung einsetzen will. Diese umzusetzen, wäre ein beachtlicher Schritt, der nicht nur die Folgen von Arbeitslosigkeit abmildern kann, sondern sie würde auch als automatischer Stabilisator für die Wirtschaft fungieren.
  • Ursula von der Leyen hat angekündigt, dass sie ein neues Konzept für Asyl und Migration vorlegen wolle. Ich bin gespannt, auf welche Weise sie erreichen möchte, dass die trostlosen Zustände in den Flüchtlingslagern in Griechenland und das Sterben auf dem Mittelmeer beendet werden können.
  • Die konkretesten Vorstellungen sind im Hinblick auf den Klimaschutz bekannt geworden. Hier hat der Vizekommissionspräsident Frans Timmermans einen „New Green Deal“ erarbeitet, der nicht nur Emissionen senken und Arbeitsplätze schaffen, sondern auch die Lebensqualität verbessern soll. Europa soll bis im Jahr 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent werden. Auf dem Weg dahin soll bis 2030 eine Treibhausgasreduktion von 50 bis 55% unter dem Wert von 1990 erreicht werden. Bis März sollen diese Ziele in einem Klimagesetz verankert werden.

Als zentrales Element ist die Ausweitung des Handels mit Emissionszertifikaten vorgesehen. In Zukunft sollen See- und Luftverkehr mit einbezogen werden. Die jüngsten Zahlen aus Deutschland belegen, dass dieses Instrument tatsächlich beträchtliche positive Wirkung entfaltet.

Die Kommission versteht ihren Green Deal als gigantisches Innovations- und Wirtschaftsprogramm, das auch viele Arbeitsplätze schaffen soll. Ursula von der Leyen hat es das europäische „Mann-auf-dem-Mond-Moment“ genannt. Die nicht immer sehr konkreten Vorschläge werden alle betreffen: Energieerzeugung, Industrie, Landwirtschaft, Bauwesen, Konzerne wie Konsumenten.

Dies bedeutet einerseits, dass gewaltige Summen bewegt werden müssten, wenn wirklich eine „Revolution in der Art des Lebens und Wirtschaftens“ auf dem Kontinent eingeleitet werden sollte. Beispielsweise müssten umweltschädliche Subventionen in Höhe von ca. 1 Billion Euro abgebaut werden. Die Europäische Investitionsbank (EIB) soll in den nächsten zehn Jahren genau diese Summe für umweltfreundliche Projekte bereit stellen. Ihr Chef, Werner Hoyer, erklärte, dass bereits 2025 jedes zweite Projekt „grün“ sein sollte. Doch das wird nicht ausreichen. Die EU selbst wird mehr investieren und die Finanz- und Förderpolitik der EU wird sich grundlegend ändern müssen! Das wird in starkem Maße auch die Landwirtschaft treffen, um nur ein Beispiel zu nennen.

Und damit ist klar, woher der Widerstand kommen wird. Die einzelnen von Veränderung betroffenen Branchen werden aufschreien. Sie werden viel in Lobby-Arbeit investieren, um die EU und die Mitgliedstaaten (MS) dazu zu bringen, die vorgeschlagenen Maßnahmen zu Fall zu bringen oder zumindest zu verwässern.

Die Politiker werden nicht nur von Lobbyisten bedrängt werden, sondern auch von der Angst um Wählerstimmen umgetrieben sein. Die Furcht vor kurzfristigem Verlust von Arbeitsplätzen kann größer sein als der Mut, in neue Möglichkeiten zu investieren. Außerdem gibt es nichts Unpopuläreres als den Bürgern und Bürgerinnen etwas zuzumuten. Dies lässt sich trefflich an dem kleinmütigen Klimapaket der Bundesregierung festmachen. Dabei böte die Tatsache, dass die Klimadebatte augenblicklich in aller Munde ist, die Chance, mutige Schritte zu gehen.

Ich gehe zunächst davon aus, dass die Kommission ihrer Arbeit nicht nur einen grünen Anstrich geben will, sondern ernsthaft positive Entwicklungen anstoßen will. Dazu braucht sie aber unbedingt die Zustimmung der MS und die jeweilige ernsthafte Umsetzung vor Ort. Auch in den andern Themenfeldern ist es keineswegs einfach, eine gemeinsame europäische Politik zu verankern, denken wir nur beispielsweise an die Asyl- und Migrationspolitik, bei der sich eine tiefe Spaltung in und zwischen unseren Gesellschaften zeigt.

Hier kommen wir Bürger und Bürgerinnen ins Spiel. Wir müssen unseren Regierungen Dampf machen und die Bereitschaft signalisieren, mit Zumutungen verbundene Veränderungen mitzutragen. Wir müssen verlangen, dass die kurzsichtige, schädliche Wahrung vermeintlich nationaler Interessen aufgegeben wird zugunsten einer gesamteuropäischen nachhaltigen Sicht. Denn alle angesprochenen Themenfelder – Außen- und Sicherheitspolitik, Soziale Dimension, Asyl- und Migrationspolitik wie Klimaschutz können nicht mehr national, sondern nur noch europäisch vorangebracht werden.

Und hier sind wir von Pulse of Europe gefragt. Wir haben die Aufgabe, die Stimme der europäischen Vernunft zu erheben. Wir müssen den Bürgern und Bürgerinnen vermitteln, dass die Zukunft nur in der Zusammenarbeit von lokaler, regionaler, nationaler u n d europäischer Ebene gesichert werden kann. Wir können die Zuversicht verbreiten, dass Europa unsere Zukunft ist.

Kommissionspräsidentin am Parlament vorbei

Die Bestellung Ursula von der Leyens (UvdL) zur Kommissionspräsidentin ist aus meiner Sicht nicht nur eine Verletzung des Spitzenkandidatenprinzips, sondern sie belegt auch erneut die Vorrangstellung des Europäischen Rats (ER) gegenüber dem Parlament. Das heißt, dass nach wie vor in erster Linie die Mitgliedstaaten (MS) bestimmen, welches Stück in der EU aufgeführt wird. Die nationalen Interessen stehen im Vordergrund und nicht die europäischen.

Abgesehen davon, dass auch die populistischen und europaskeptischen Kräfte bei dieser Europawahl gestärkt wurden, hat sich das Europäische Parlament (EP) im Vergleich zum ER in den vergangenen Jahren viel stärker zu einer EU-integrationsfreundlichen Kraft entwickelt, die zunehmend in der Lage war, die nationale Sichtweise zugunsten des gemeinsamen europäischen Interesses zu überwinden.

Ich kann Konrad nur zustimmen, dass die Missachtung des Spitzenkandidatenprinzips ein Schlag gegen die Bemühungen ist, die EU bürgernäher und demokratischer zu machen. Dass der ER letztlich so handeln musste, weil das EP sich nicht schnell genug geeinigt hatte, scheint mir aber ein vorgeschobenes Argument zu sein. Einige Staats- und Regierungschefs (z.B. Macron) hatten von vorneherein erklärt, dass sie das Spitzenkandidatenprinzip nicht akzeptierten.

Die deutsche Seite kann selbstverständlich trefflich argumentieren, dass man ohne die Zustimmung der anderen Länder kaum Durchschlagskraft habe, um eine andere Entscheidung herbeizuführen. Nun, es geht nicht um Durchschlagskraft, sondern um Aushandeln. Deutschland hätte aus meiner Sicht durchaus eine realistische Möglichkeit gehabt, Zustimmung für einen strukturellen Vorschlag zu bekommen, wenn es zuvor auf den einen oder anderen inhaltlichen Wunsch der Partner eingegangen wäre.

Als Beispiele seien genannt: der Vorschlag Macrons für ein gewichtig ausgestattetes Eurozonenbudget mit einem verantwortlichen europäischen Finanzminister oder sein Vorschlag, europäische Wahllisten einzuführen, aber auch die Lockerung des für die Südstaaten so fatalen Austeritätsprinzips. Es ist nicht ausgemacht, dass die europäischen Partner nicht zu einem strukturellen Zugeständnis bereit gewesen wären, wenn entsprechende inhaltliche Flexibilität Deutschlands sichtbar geworden wäre. Aber vielleicht war auch Frau Merkel gar nicht so sehr daran interessiert, die parlamentarische Lösung durchzusetzen.

Es ist schon bedauerlich genug, dass jeder MS einen Kommissar-Posten besetzt, was bei der Zahl von 27/28 Kommissar*innen zu einem schwerfälligen Gremium führt. Auf diese Weise wird das Denken bestärkt, dass jeder MS „seinen“ Kommissar in Brüssel hat, der die Interessen „seines“ Landes vertritt. Da ist es schwer, von der Haltung wegzukommen, dass jeder Nationalstaat seine Interessen gegen die der anderen vertreten muss, anstatt intensiv nach den Entwicklungschancen einer gemeinsamen EU-Politik zu suchen: die EU als Nullsummen-Spiel statt einer Gewinnstrategie für die Gemeinschaft! Zaghafte Reformvorschläge (Juncker), über die Reduzierung der Zahl der Kommissare das Verständnis weiter zu entwickeln, dass jeder einzelne Kommissar die gemeinsame grenzüberschreitende Weiterentwicklung im Auge haben muss, sind bisher bei den MS ohne positives Echo geblieben.

Nun auch noch die Kommissionspräsidentin von den MS aussuchen zu lassen, ist nicht nur kein Fortschritt, sondern darüber hinaus ein gravierender Rückschritt! Zu UvdL selbst: als Frau freue ich mich selbstverständlich, dass es heute möglich ist, eine Frau zur Kommissionspräsidentin zu berufen. Und ohne Zweifel ist es von Vorteil, dass sie wichtige europäische Sprachen spricht. Aber reicht das schon aus?

Was die Erfahrungen aus ihren Ämtern anbelangt, so will ich vorweg sagen, dass ich die Verteidigungspolitik tatsächlich für eines der schwierigsten Aufgabenfelder halte. Weniger wegen der Rückkopplung mit den Bürgerinnen und Bürgern, sondern eher wegen der verfestigten Strukturen und Hierarchien im Verteidigungsministerium (BMV) und der zwielichtigen Rolle der Rüstungslobby. Dass UvdL ihre Aufgabe glanzvoll gemeistert habe, lässt sich mit Fug und Recht nun aber nicht behaupten. Die Leitung der Europäischen Kommission ist aber im Vergleich weitaus herausfordernder.

Dass Frau von der Leyen eine überzeugte Europäerin sei, hört sich gut an, war aber bisher ein Lippenbekenntnis. Denn weder ist ihre Partei, resp. die Regierung, der sie angehörte, mit überzeugenden pro-europäischen Initiativen angetreten, noch hat UvdL selbst mit innovativen Europa-Ideen von sich reden gemacht. Es ist zu befürchten, dass die Staats- und Regierungschefs das auch nicht vermissen, ja nicht einmal wünschen. Die kurzsichtige Herangehensweise wird fortgesetzt: die EU ist gut, solange sie meinen kurzfristigen Interessen dient („Fahren auf Sicht!“) und mich nicht stört!

Die teils blumigen Titel, die UvdL den Verantwortungsbereichen der Kommissar*innen gegeben hat, scheinen mir manchmal eher geeignet, die großen Herausforderungen nicht benennen zu müssen. So taucht z.B. der Begriff Migration in keinem Verantwortungsbereich auf. Da bleibt nur zu hoffen, dass die Bürgergesellschaft nicht müde wird, das Anpacken der großen Herausforderungen einzufordern. Pulse of Europe kann hier eine wichtige Rolle spielen.