Der Newsletter vom 29. Oktober hat durch seinen impliziten Zweifel an den Regierungsmaßnahmen einigen Widerspruch hervorgerufen. Aus diesem Grund haben wir hier die Kommentar-Funktion aktiviert und hoffen auf einen regen Gedankenaustausch.
Die Regierungschef*innen von Bund und Ländern haben ein Machtwort gesprochen und Deutschland in einen „kleinen Lockdown“ gezwungen. Für uns als Pulse of Europe Gruppe heißt das, dass wir das regelmäßige Treffen am jeweils ersten Montag eines Monats bis auf Weiteres aussetzen müssen. Das gilt leider auch bereits für das Treffen am kommenden Montag.
Ein bisschen wundern über die Entscheidungen unserer Regierenden darf man sich schon. Sie betreffen im wesentlichen Gastronomie, Kultur und Breitensport, also genau die Bereiche, die in den letzten Monaten erfolgreiche Hygienekonzepte erarbeitet hatten. Es war eigentlich bis gestern gemeinsames Verständnis, dass diese Bereiche keinen wesentlichen Beitrag zur Verbreitung der Pandemie liefern. Warum also hier eingreifen und das soziale Leben komplett ins Private abzudrängen, wo es weder Hygienekonzepte noch Überwachung gibt?
Zudem wären gerade Kultur, Sport und auch Gastronomie so wichtig,um im kommenden dunklen November Lebensfreude, Fitness und körperliche und seelische Robustheit zu erhalten.
Ein paar Lichtblicke gibt es:
Die Kitas und Schulen bleiben offen. Offenbar hat man zumindest hier auf den vereinten Chor von Erzieher*innen, Lehrer*innen, Ärzt*innen und Psycholog*innen gehört.
Für uns als Europäer ist natürlich besonders von Interesse, dass die Grenzen offen bleiben sollen. Die Lehre vom Frühjahr ist angekommen, dass Europa längst zu verzahnt ist, als dass man den freien Personen- und Warenverkehr einschränken könnte, ohne sich massiv selbst zu schaden.
Und auch die Werte der Europäischen Demokratie erwachen wieder. Die „Stunde der Exekutive“ ist vorbei, die Schockstarre, mit der im Frühjahr Bevölkerung, Parlamente und Gerichte schweigend zusahen, wie wesentliche Bürgerrechte eingeschränkt wurden, ist zu Ende. Die Parlamente verlangen Mitsprache und die Gerichte haben bereits erste Maßnahmen gekippt, die weder als zweckdienlich noch als angemessen gewertet wurden.
Warten wir also ab, was von den aktuellen Maßnahmen der Regierung die Kontrolle der anderen „staatlichen Gewalten“ überstehen wird. Es wird ein spannender Herbst, auch wenn die Kinos zu sind.
der Newsletter hat erfreulicherweise auch kritisches Echo gefunden. Insbesondere wurde bisher bemängelt, dass unser Newsletter
– das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zuwenig berücksichtigt
– die Rolle der Gerichte im Frühjahr als zu passiv kritisiert
– destruktive Kritik geübt wird ohne Alternativen darzustellen
Wir freuen uns über jedes Feedback und wollen deshalb hier zur Diskussion einladen.
Als federführender Autor des Newsletters möchte ich auf die Kritik wie folgt eingehen:
Leben und körperliche Unversehrtheit müssen eines der höchsten Ziele einer humanen Gesellschaft sein. Es gibt jedoch kein „Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“. Dies wäre auch unmöglich, da keine Regierung und kein Gericht so etwas garantieren kann. Früher hätte man wohl gesagt „Leben und Gesundheit sind in Gottes Hand“, moderner ist wohl die Feststellung eines „hinzunehmenden allgemeinen Lebensrisikos“.
Wie schon Wolfgang Schäuble im Frühjahr dankenswerterweise klargestellt hat, sind deshalb auch Leben und Gesundheit keine absolut priorisierten Ziele, sondern müssen manchmal gegen andere Werte (z.B. die Würde des Menschen) zurücktreten.
Zur körperlichen Unversehrtheit gehört nach meiner Ansicht zudem nicht nur der Schutz vor Covid-19, sondern auch der Schutz vor Kollateralschäden der Maßnahmen (Depressionen und Suiziden, häusliche Gewalt, aus Angst vor dem Virus versäumte notwendige medizinische Behandlungen, Vereinsamung, usw.).
Ob bei den aktuellen Maßnahmen diese Problemkreise angemessen gegeneinander abgewogen wurden, ist nicht klar. Deutliche Warnungen (z.B. von Kassenärzten, Psychologen, Psychiatern) vor den Kollateralschäden lassen daran Zweifel zu. Zumal die Einschränkungen ja fast ausnahmslos Bereiche treffen, die eben nicht im Zentrum der Infektionsketten stehen.
Meine Wortwahl die Gerichte hätten „schweigend zugesehen“ war schlicht falsch. Nach unserer Rechtsordnung dürfen Gerichte nur auf Grund von Klagen aktiv werden. Da es am Anfang der Pandemie kaum Widerstand gab, gab es für die Gerichte diesbezüglich auch wenig zu entscheiden. Ich wollte nicht unterstellen, die Gerichte hätten ihre Arbeit nicht gemacht.
Die Forderung, ich solle erst mal bessere Vorschläge machen, bevor ich kritisiere, hat natürlich eine gewisse Berechtigung. Ich sage ehrlich, dass ich diese besseren Vorschläge nicht parat habe. Andererseits, wenn man im Nebel herum irrt, darf man doch auch vor einem Weg warnen, den man als gefährlich ansieht. Auch dann wenn man nicht sagen kann, welche Alternative der richtige Weg ist.
Noch ein letzter Punkt, der mir sehr am Herzen liegt:
Wenn durch Regierende wesentliche Bürgerrechte eingeschränkt werden, muss in einer freiheitlichen Demokratie jede Einschränkung mit ihrem Dafür und Dagegen klar und faḱtenbasiert kommuniziert werden. Das fehlt mit derzeit völlig. Kanzlerin und Ministerpräsident*innen bedienen sich einer immer extremer werdenden Endzeit-Sprache (winter is coming, größte Herausforderung der Menschheit, Kühllaster voller Verstorbener, etc.). Aber so begründet man keine konkrete Maßnahme, sondern verstärkt nur Angst und damit wiederum die oben genannten Kollateralschäden.
Wenn z.B. Kanzleramtsminister Braun vor die Kameras tritt und mit dem Gebaren des gütigen Vaters ungefähr sagt „wenn ihr alle 4 Wochen brav seit, dann gibt es auch wieder Weihnachten“, so ist das eher grotesk als hilfreich.
Was mir aber vor allem fehlt, ist eine klare Antwort auf die Frage: Was passiert eigentlich dann am 1. Dezember? Es ist doch hoffentlich niemand in der Regierung so naiv zu glauben, dann wäre das Virus verschwunden oder der Winter vorbei?
Der Virologe Streeck mag ja nicht in allen Punkten recht haben, aber seine Aussage, dass das Virus uns noch Monate oder Jahre beschäftigen wird und wir deshalb keine kurzfristigen Aktionen brauchen, sondern eine langfristige und durchhaltbare(!) Strategie, trifft für mich den Nagel auf den Kopf.